Rückblick auf Super Mario 64: Das vielleicht wichtigste Videospiel aller Zeiten
Meilenstein, Revolution, Wegbereiter, Wendepunkt: Es gibt gar nicht genügend hochtrabende Begriffe, um die Relevanz des N64-Abenteuers Super Mario 64 in Worte zu fassen. Anlässlich des 35. Geburtstags des berühmtesten Klempners der Welt und der Wiederauferstehung des Abenteuers im Rahmen von Super Mario 3D Allstars, blicken zurück auf seinen ersten 3D-Auftritt und somit auf das vielleicht wichtigste Videospiel aller Zeiten.
Super Mario 64: Es reicht schon, den Titel des Abenteuers auszusprechen, und viele Spieler verfallen in süße Verzückung. Der erste 3D-Ausflug des berühmtesten Klempners der Welt gilt bis heute als absoluter Meilenstein nicht nur des Hüpfspiel-Genres, sondern der Videospielewelt an sich. Wo sich der pummelige Italiener bisher nur von links nach rechts bewegte, stand uns auf einmal eine komplette Welt frei zur Erkundung offen. Super Mario 64 war nicht das erste 3D-Spiel, nicht einmal das erste 3D-Jump&Run.
In diesem Artikel
- Seite 1 Retro-Rückblick auf Super Mario 64, Seite 1: Die Entwicklungsgeschichte und die Bedeutung von spielerischer Freiheit
- Seite 2 Retro-Rückblick auf Super Mario 64, Seite 2: Qualitäten, Mängel und die fortdauernde Relevanz
- Seite 3 Bildergalerie zu "Rückblick Super Mario 64: Das wichtigste Videospiel aller Zeiten?"
Aber es zeigte im Gegensatz zur Konkurrenz schon im ersten Anlauf, wie es richtiggemacht wird und brachte dafür zahlreich weitere "Firsts" mit sich: Das erste Blockbuster-Spiel, das auf Analogstick-Steuerung setzte; das erste, das eine richtige, frei drehbare Kamera bot; das erste, welches etablierte, wie Collectathons funktionieren, ein Subgenre, das in den kommenden Jahren nach dem Release sowohl das N64- als auch das PS1-Portfolio nachhaltig dominieren sollte.
Frühe Jahre eines Klempners
Dabei hätte alles anders kommen können. Das, was wir heute als Super Mario 64 kennen, nahm seinen Anfang schon viel früher auf dem Super Nintendo. Um die Jahre 1991, 1992 herum werkelte Nintendo gerade an Star Fox, welches für die Darstellung von 3D-Effekten den neuartigen Super-FX-Chip benutzte.
Miyamoto war von der Technik begeistert und beschloss, dass das nächste Mario-Abenteuer nach dem vielgelobten Super Mario World auf dieselbe Technik setzen sollte. Bilder oder gar Videos aus dieser Entwicklung existieren nicht, es ist nicht einmal klar, ob jemals ein funktionierender Prototyp für das angedachte Spiel umgesetzt wurde. Jedenfalls stellte sich das Projekt dann doch als zu komplex für die altersschwache 16-Bit-Hardware heraus. Bis das Spiel schließlich Ende 1995 offiziell für das damals unter dem Namen Ultra 64 geführte Nintendo 64 enthüllt wurde, sollte die Struktur des Abenteuers noch etliche Male über den Haufen geworfen, komplett neu gedacht oder zumindest überarbeitet werden. So war irgendwann ein deutlich linearerer Levelaufbau geplant, ähnlich wie in den Crash-Bandicoot-Spielen. Ein Überbleibsel dieses Designansatzes findet sich noch in den drei sehr geradlinigen Bowser-Levels.
Er kam, sah, siegte
Quelle: PC Games Stattdessen stand schlussendlich jedoch spielerische Freiheit im Fokus der Entwicklung. Nach heutigen Maßstäben war das für das Projekt zuständige Team übrigens schon fast lächerlich klein: Meist werkelten nicht mehr als 20 Leute gleichzeitig an dem Spiel. Diese Entwickler hatten dafür den Komfort, dass ihre Arbeit direkten Einfluss auf die Produktion des Nintendo 64 hatte. Der Controller der Kult-Konsole wurde mit Super Mario 64 im Hinterkopf gefertigt. Das zeigt, was das Prestigeprojekt, der mit Abstand wichtigste Launchtitel der neuen Hardware, für eine riesige Bedeutung hatte. All die Mühen, all die Neustarts und die vielen Gedanken, die um das Abenteuer kreisten, zahlten sich schlussendlich mehr als aus: Als Super Mario 64 im Juni 1996 in Japan erschien (und im März 1997 auch hier bei uns in Europa), wurde es mit Höchstwertungen, überschwänglichstem Lob und Preisen nur überschüttet. Schnell war klar: Nintendo hatte nicht nur einen Fuß ins 3D-Gaming-Wasser gesteckt, es hatte eine Bombe vom Zehnmeterturm und alle anderen Mitbewerber am Beckenrand gehörig nass gemacht!
Das große Vorbild
Quelle: PC Games Das in den Kinderschuhen steckende 3D-Gaming hatte auf einmal eine Blaupause, wie es funktionieren sollte. Tatsächlich: Runtergebrochen auf die spielerische Essenz, funktionieren 3D-Hüpfer auch heute noch fast genauso wie Super Mario 64. Doch die Bedeutung geht noch so viel weiter. Ohne Marios N64-Abenteuer hätte es wohl kein Zelda: Ocarina of Time gegeben, welches sich eine Engine und viele Erfahrungswerte mit dem Mario-Abenteuer teilte; ohne Mario 64 auch keine Rareware-Klassiker und auf lange Sicht keine Open Worlds, wie wir sie heute kennen, also kein GTA, kein Assassin's Creed, kein Witcher 3. Klar, eine gewagte Aussage, aber fast alle Entwickler dieser Welt berufen sich bezüglich dessen, was sie tun, schlussendlich wieder auf den 3D-Urvater zurück. Entwicklungen wie frei drehbare Kameras, das stufenlose Bewegen im dreidimensionalen Raum, der sinnvolle Aufbau von offenen Arealen - all diese Elemente, welche sich Studios nach 1996 zu eigen machten, haben ihren Ursprung in Super Mario 64. Ein Entwickler wie Naughty Dog, welcher derzeit mit The Last of Us Part 2 auf PS4 riesige Erfolge feiert, orientierte sich mit Jak & Daxter klar an der Nintendo-Formel, und auch das zeitgleich mit Mario 64 entwickelte, deutlich linearere Crash Bandicoot konnte die Einflüsse des Klempners nicht leugnen.
Eine neue Welt
Quelle: PC Games Steckt man das Spiel nach all den Jahren wieder in die Konsole, dann weiß man auch, warum Super Mario 64 diesen extremen Einfluss hatte. Klar, es hat seine archaischen Elemente und bei manchen Designentscheidungen möchte man die Entwickler kräftig durchrütteln. Aber im Kern ist es wahrlich hervorragend gealtert. Und es führt einen als Spieler extrem kompetent an die für damalige Verhältnisse neuartige 3D-Welt heran. Sobald wir nach Prinzessin Peaches Einladung vor ihrem Schloss aufschlagen, sehen wir uns erst einmal mit einem offenen Areal bar jeder Gefahr konfrontiert. Das Wasser plätschert im Schlossgraben, Vögel zwitschern, Bäume laden zum Klettern ein. Wohl jeder Spieler, der Mitte der 1990er das erste Mal in das Abenteuer startete, verbrachte erst einmal viel zu viel Zeit in diesem Areal, hüpfte herum und lernte Marios Moveset kennen. Das ist kein Zufall und war von Nintendo genau so gewollt. Gemäß der alten Designweisheit des Mario-Erfinders Shigeru Miyamoto, wonach die Grundlagen eines Spiels innerhalb des ersten Bildschirms etabliert und verstanden werden müssen, werden die Spieler hier sanft an all die Bewegungen und Elemente herangeführt, die sie im späteren Verlauf in immer komplexeren und kniffligeren Situationen werden umsetzen müssen. Was dereinst bei Super Mario Bros. Sprung, Gumba, Pilz und Blöcke waren, waren in Super Mario 64 Laufen, Dreifachsprung, Weitsprung, Schlag, Klettern, Schwimmen, Krabbeln und Co.
Gelebte Freiheit
Quelle: PC Games Und auch danach wird man nicht sofort ins kalte Wasser geworfen. Nach und nach führt einen das Abenteuer an immer anspruchsvollere Herausforderungen an. Nachdem man die ersten Hallen und Gänge von Peaches Schloss untersucht hat, der eigentlichen Hub-World, stolpert man unweigerlich über ein großes Bild, auf dem die Bomben-Feinde Bob-Ombs zu sehen sind. Berührt man das Gemälde, fängt es seltsam zu wabern an, und über kurz oder lang sagt einem die Intuition, was zu tun ist: Einfach mal drauflosspringen - und schon ist man mittendrin im ersten "echten" Level von Super Mario 64, Bob-Ombs Bombenberg. Show, don't tell, ist die Devise des Titels, nicht jede klitzekleine Kleinigkeit wird dem Spieler vorgekaut - eine Unart, der sich Nintendo heutzutage leider recht oft hingibt. Klar, Toads und Tafeln geben Hinweise, größtenteils erschließt man sich aber selbst, was zu tun ist. Unsere Aufgabe ist es, goldene Sterne zu sammeln, also machen wir das! Schon in diesem frühen Moment im Spiel wird die beim Herumturnen im Vorgarten angedeutete spielerische Freiheit offenbar.
Quelle: PC Games Die Missionsbeschreibung sagt uns, wir sollen König Bob-Omb oben am Plateau des großen Berges bezwingen. Was aber, wenn wir das einfach nicht tun? Was, wenn wir stattdessen anfangen, rote Münzen zu sammeln, möglicherweise sogar einen Weg finden, trotz zu diesem Zeitpunkt noch versperrter offensichtlicher Route zu jenem Sternexemplar auf der fliegenden Insel im Himmel zu gelangen? Zack, gibt es als Belohnung einen ganz anderen goldenen Stern als den eigentlich angedachten! Oder wir erforschen die Gegend, entdecken, dass wir den armen Kettenhund von seiner Leine befreien können und sehen uns auf einmal mit einem weiteren Sternchen belohnt. Super Mario 64 kennt nur ganz selten eine einzelne Lösung. Viel häufiger sind die Anweisungen, die es an uns stellt, bloß eine grobe Richtlinie. Da können sich so manch moderne Rollenspiele mit Entscheidungselementen noch eine Scheibe abschneiden!
Wie es euch gefällt
Quelle: PC Games Dieser Ansatz geht aber noch weiter und man kann sich vorzüglich drüber streiten, inwieweit dieser zweite Aspekt von Nintendo selbst vorgesehen war. Wir haben ja schon erwähnt, dass wir auch ohne die Kanone, die für den Weg nach oben notwendig ist, zum Stern auf der fliegenden Insel gelangen können. Die Wahrheit ist: An so gut wie keinen der Sterne kommt man nur auf eine Art. Marios komplexes Bewegungssystem, welches nach Nintendos Angaben während der Entwicklung Dreh- und Angelpunkt aller Entscheidungen war, erlaubt einem, ja, ermutigt den Spieler gar, die Level an allen Ecken und Enden auszutricksen. Warum im Gebiet Grüne Giftgrotte den Weg durch das giftige - und tendenziell nervige - Labyrinth nehmen, wenn ein gut platzierter Rückwärtssalto mit anschließendem Wandsprung Mario direkt zum sternförmigen Objekt der Begierde befördern? Warum in der Welt Frostbeulen Frust umständlich einen grünen Panzer besorgen und über eine steile Rampe zum angepeilten Iglu fahren, wenn man einfach eine deutlich komfortablere Alternativroute nehmen kann? Warum in der Lava Lagune auf einem wackeligen Baumstamm zum Ziel kullern, wenn man sich einfach eine Flugkappe überstreifen und fröhlich hinsegeln kann?
Immer wieder neu
Quelle: PC Games Was diese in jeder Hinsicht offene Herangehensweise erreicht, die abseits vom deutlich anders gestrickten Super Mario Odyssey keinem Klempner-Hüpfspiel auch nur im Ansatz jemals wieder nachzuahmen gelang: Super Mario 64 ist ein Spiel, das weit, weit über seine eigentliche Spielzeit hinaus noch für fast uneingeschränkte Langzeitmotivation sorgt. Im Kern ist's simpel: Man sammelt 70 goldene Sterne, um den letzten der drei Bowser-Kämpfe bestreiten zu können - 120, wenn man wirklich alle Aufgaben erledigen will. Das dauert je nach Können und Erfahrung beim allerersten Durchgang etwa 20 bis 30 Stunden. Befand man sich kurz nach dem Launch 1996 in dieser Situation, dachte man dann wohl, man habe alles gesehen und erlebt.
Aber dann kam am Schulhof das Gerücht auf, dass Maxi Huber aus der 5C diese und jene Aufgabe, für die man selbst Stunden gebraucht hatte, innerhalb von Sekunden und auf völlig andere Art und Weise gelöst hätte. Die Reaktion war damals dann wohl Skepsis, ehe man hörte, dass Susi Mayer aus der 4A auch ganz anders an eine Sternsuche herangegangen war. Also setzte man sich noch einmal ans N64, versuchte es auf einmal mit völlig anderen Tricks und erlebte eine wahre Gameplay-Epiphanie. Nachdem man bereits Dutzende Stunden mit dem Abenteuer verbracht hatte, tat sich einem auf einmal eine Welt hinter der virtuellen Welt auf, die man vorher einfach nicht gesehen hatte, weil einem schlicht das Wissen und die Fähigkeiten dazu fehlten. Obwohl oder gerade weil das Internet mit seinen Antworten auf alle Fragen und Enthüllungen aller Geheimnisse damals noch keine Rolle spielte, zog einen das Spiel mit all seinen Möglichkeiten immer weiter in seinen Bann.
The Legend of Mario
Ein Nebenaspekt dieser kollektiven Dekonstruktion dessen, was in Mario 64 möglich war (und ist), war die Mythenbildung. Auch hier gilt: In Zeiten der Internet-Omnipräsenz veröffentlicht, hätte das Spiel zumindest in dieser Hinsicht wohl nicht so ein Phänomen werden können. Emsige Dataminer, Foren voller Leute, die den Entdeckerdrang normaler Spieler durch ihre "Spoiler" dämpfen, machen es beinahe unmöglich, dass Geheimnisse jahrelang unentdeckt bleiben. Dafür haben wir aktuell sogar den besten Beweis, denn der große Quellcode-Leak rund um SNES und N64 i n den letzten Wochen und Monaten breitet alles, worüber man in Ocarina of Time, Star Fox, eben Super Mario 64 und Co. bisher nur mutmaßen konnte, für alle sichtbar vor der Welt aus. Früher aber sah man auf einer verwaschenen Tafel im Hinterhof von Peaches Schloss eine noch verwaschenere Schrift und machte sich Gedanken darüber, was das bedeuten könnte - "L is real 2401", lässt sich Luigi als Spielfigur freischalten? Oder man fragte sich, was sich außerhalb des riesigen Aquariums neben dem Level Piratenbucht-Panik wohl befand. Oder man wollte wissen, ob nicht doch irgendwo noch ein letztes, geheimes Level versteckt war, welches die Maximalsternanzahl über die 120 offiziellen Exemplare hinausbeförderte.
Aber was man tatsächlich sagen muss ist, das 3D Jump & Runs bis heute eher eine Nischengeschichte sind, die im Wesentlichen durch die alle paar Jahre erscheinen Mario-Spiele hochgehalten werden. Der Großteil von allem in diesem Genre erscheint bevorzugt scheinbar noch immer die 2. Dimension. :D
Tatsächlich fand ich Mario 64 auch nicht so pralle. Da fand ich andere N64-Games besser.
Die Leute reagieren hier ganz schön sensibel :D